Politik, Statement

Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales
und des Ausschusses für Frauenpolitik des Landes Nordrhein-Westfalen
am 31. Januar 2007
Themenbereich: Psychiatrie in NRW

Stellungnahme

zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 14/2105
Den Menschen in den Mittelpunkt stellen – Psychiatrieversorgung in NRW weiterentwickeln
und ganzheitlich ausrichten

sowie

zum Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP – Drucksache 14/2415
Psychische Erkrankungen frühzeitig erkennen und behandeln – durch verstärkte Aufklärung
und niedrigschwellige Angebote zur Entstigmatisierung beitragen

Grundsätzliche Anmerkungen

Es ist zu begrüßen, dass die Fraktionen sich für eine Verbesserung der psychiatrischen Hilfen in NRW stark machen. Die in den Anträgen formulierten Forderungen greifen aber zu kurz. Mit der Auflistung längst bekannter Notwendigkeiten und Appellen ist es nicht getan. Solange die Politik für die Umsetzung nicht die erforderlichen Rahmenbedingungen schafft, bleibt das Ganze Stückwerk wie bisher. Wir brauchen nicht ständig neue Modellprojekte, die – erfolgreich, aber folgenlos – am Ende der Modellphase wieder eingestellt werden (müssen), weil es nicht gelingt, sie in eine Regelfinanzierung zu überführen! Was wir brauchen ist die Umsetzung vorhandener Konzepte, die auf erfolgreichen Vorbildern basieren, und die finanzielle Absicherung von Hilfsangeboten, die sich bewährt haben.

Die angestrebte Weiterentwicklung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen mit der Vorgabe „ambulant vor stationär“ kann nicht gelingen ohne

  • eine entsprechende Versorgungsforschung und die Förderung psycho-sozialer Forschung,
  • die Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung psychiatrisch Tätiger incl. der Ärzte,
  • engere Kooperation/Vernetzung der Angebote von Gemeindepsychiatrie, Jugendhilfe,
    Altenhilfe und Wohnungslosenhilfe.

Deshalb ist es äußerst bedauerlich, dass der Ausschuss für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie, der Ausschuss Generationen, Familie und Integration sowie der Ausschuss für Kommunalpolitik und Verwaltungsstrukturreform an dieser Anhörung nicht beteiligt sind!

Zum Thema: Früherkennung

Vor den Folgen von Früherkennungsprogrammen, die sich der Identifizierung von potentiell psychose-gefährdeten (jungen) Menschen und der vorsorglichen medikamentösen Frühestbehandlung verschrieben hat, kann man nur warnen. (vgl. Anlagen 1+2 1)

Die bekannten und erkennbaren Symptome einer sich anbahnenden Erkrankung wahrzunehmen, ist eine andere Sache. In Angehörigengruppen gesammelte Erfahrungen zeigen: Wenn oft Jahre vergehen, bevor die Betroffenen professionelle Hilfe erhalten, so liegt das nicht zuletzt daran, dass diese (Vor-)Zeichen selbst von Psychiatern häufig nicht erkannt, die Schilderungen Rat suchender Angehöriger nicht ernst genommen werden.

Hier Abhilfe zu schaffen ist Aufgabe der psychiatrischen Aus-, Fort- und Weiterbildung der Behandler, insbesondere der Ärzte und Psychotherapeuten. Ebenso die Befähigung der Psychiater zu einfühlsamer Gesprächsführung. Denn allzu oft wird die zaghafte Bereitschaft sich anzuvertrauen im Keim erstickt, indem vorschnell die bedingungslose Einwilligung zur medikamentösen Behandlung gefordert wird.

Zum Thema: Aus-, Fort-, Weiterbildung - Forschung und Lehre

Helfer und Behandler im Gesundheitswesen und erst recht psychiatrisch Tätige müssen bereits in ihrer (Grund-)Ausbildung befähigt werden, Patienten/Klienten als fühlende Menschen wahrzunehmen und ihnen als (mit-)fühlende Menschen gegenüberzutreten – sie nicht nur diagnostisch abzuhandeln.

Dazu braucht es

1. verpflichtende Gelegenheiten zur Horizonterweiterung durch Begegnung mit sychiatrieerfahrenen Menschen und ihren Angehörigen in

  • trialogisch gestalteten Lehrveranstaltungen,
  • Psychose-Seminaren und –Foren, wo Betroffene, Angehörige, psychiatrisch Tätige und vielerorts auch „nur“ interessierte Bürger/innen zum Erfahrungsaustausch zusammenkommen,
  • Selbshilfegruppen Psychiatrie-Erfahrener und Angehöriger
  • etc.

2. Schulung in Gesprächsführung, therapeutische Selbsterfahrung,
regelmäßige Supervision.

Solche Qualifizierung setzt aber auch eine entsprechende Horizonterweiterung der Forschung voraus. Solange es so gut wie keine von der Pharmaindustrie unabhängige Forschung (und Weiterbildung!) gibt, kann nicht erwartet werden, dass sich ein ernsthaftes Interesse auf die Förderung psycho-sozialer Wirkfaktoren richtet, die nachweislich geeignet sind, den Einsatz von Medikamenten zu reduzieren, somit auch deren bedenkliche Neben- und Spätwirkungen - und die damit verbundenen Kosten! Hier müssen Seitens der Politik endlich Weichen (um-)gestellt werden.

Dringend geboten ist die Förderung sozialpsychiatrischer Forschung und Lehre durch die Öffentliche Hand. Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige sollten im übrigen an der Verteilung der Mittel und an der Forschungsplanung, der Formulierung von Forschungszielen beteiligt werden. Nur so lässt sich eine angemessene Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Erfahrungen erreichen.

Zum Thema: Kinder psychisch kranker Eltern

Erst in den letzten Jahren ins Blickfeld gerückt, sind die Kinder psychisch erkrankter Eltern. Auch kleine Kinder und Jugendliche sind Angehörige! Sie brauchen besondere Aufmerksamkeit. Hier macht „Früherkennung“ Sinn und Prävention durch frühest mögliche Unterstützung für die Eltern und ihre Kinder.

Es ist bekannt, dass Kinder psychisch Kranker ein erhöhtes Risiko haben, ebenfalls zu erkranken – was weit mehr ihrer seelischen Belastung zu verdanken ist als irgendwelchen genetischen Faktoren! Hier gilt es in besonderem Maße, die Schutzfaktoren zu identifizieren und Möglichkeiten einer altersgerechten Prävention zu erforschen. Die muss gerade auch jenen Kindern zugute kommen, die Ihre Not (noch) nicht durch Symptome wie „unangepasstes“ Verhalten zum Ausdruck bringen. Viele dieser Kinder übernehmen allzu oft (nicht selten schon vor ihrer Einschulung) die Verantwortung nicht nur für das erkrankte Familienmitglied, sondern auch für die Geschwister, die ganze Familie. 2)

Mittlerweile gibt es hier und da segensreiche Projekte für unterschiedliche Altersstufen, vereinzelt ermöglichen auch Kliniken die Aufnahme von Müttern zusammen mit ihrem kleinen Kind - rühmliche Ausnahmen, getragen von der Kreativität engagierter Ärzte und Pflegekräfte; für die Finanzierung aber will niemand zuständig sein. Ein letztendlich kostspieliges Beispiel dafür, wie die Parzellierung unseres Hilfe- und Kostenträgersystems notwendige Hilfeleistung und präventive Arbeit behindert, ja regelrecht verhindert. So hat auch hier schon manches erfolgreiche Projekt die Modellphase nicht überlebt.

Es gibt – auch in NRW – gute Konzepte und nachahmenswerte Vorbilder dafür, wie diese gemeinsame Aufgabe von (Erwachsenen-)Psychiatrie und Jugendhilfe gemeistert werden kann - etwa:

  • die Kinderwohngruppe KOLIBRI an der Westfälischen Klinik Lengerich,
  • die Eltern-Kind-Behandlung an der Tagesklinik Alteburgerstraße in Köln, 3)
  • das Präventionsprojekt KIPKEL in Haan,
  • FLIPS in Witten und KIPS in Solingen,
  • KIMM (Kindern Mut machen) an der Familienberatungsstelle Köln-Porz,
  • das Frau-Kind-Haus der Köln-Ring GmbH in Köln,
  • das kürzlich gestartete Patenprojekt von LVR und Rhein. Kliniken Köln.

Adressen und weitere Informationen zu den derzeit bekannten Projekten:
www.Netz-und-Boden.de; www.schatten-und-licht.de; www.kinder-psychisch-kranker.de

Wie sich die Kooperation verbindlich organisieren lässt, wird beispielsweise derzeit im Raum Hilden/Langenfeld ausprobiert.4) Rahmenbedingungen, die es den ständig um ihren Fortbestand bangenden Ausnahmen erlauben, zum selbstverständlichen Regelangebot zu werden, müssen aber erst noch geschaffen werden.

Zum Thema: Ambulant vor stationär

Der durchaus vernünftige Grundsatz „ambulant vor stationär“ hat zu allererst für den Umbau des psychiatrischen Hilfesystems zu gelten. Solange der außerklinische Bereich nicht entsprechend ausgestattet ist, geht die „Enthospitalisierung der Psychiatrie“ zu Lasten der Erkrankten und ihrer Angehörigen. Sie wird unterm Strich noch kostspieliger, wenn die Installation der notwendigen ambulanten Hilfen nicht vor der Ausdünnung der stationären Angebote erfolgt.

Eine weitere Verkürzung der stationären Behandlung zunehmend schwerer Kranker ist unverantwortlich. Sie leistet der Drehtürpsychiatrie, der Chronifizierung und Zwangseinweisungen Vorschub, wenn gleichzeitig z.B. die Ambulante Psychiatrische Pflege (APP) zurückgefahren wird – und solange keine verlässlichen gemeindepsychiatrischen Krisenhilfen zur Verfügung stehen!

Auch hier ist die Politik gefordert! Es mangelt nicht an guten Konzepten und erfolgreichen Modellen. Dennoch ist es beispielsweise in Köln in über 20 (i. W. zwanzig!) Jahren nicht gelungen, einen ambulanten Krisendienst auf die Beine zu stellen, weil er sich nicht finanzieren lässt.

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ darf im übrigen nicht zur Abschaffung aller Wohnheime führen. Auch bei bestmöglicher ambulanter Versorgung, von der wir noch weit entfernt sind, wird es immer psychisch kranke und behinderte Menschen geben, die auf den schützenden, stützenden Rahmen einer solchen Bleibe angewiesen sind. Für sie werden Einrichtungen benötigt, die Obdach und Grundversorgung gewähren – auch ohne Vorbedingungen und Reha-Verpflichtung. 5)

1
Susanne Heim: Vorsicht Forschung!, Soziale Psychiatrie 3/2003 (Anlage 1)
Peter Stolz: Wer nicht heilen kann, soll nicht verwunden, Soziale Psychiatrie 1/2006
(Anlage 2)

2
Susanne Heim: Den Kindern Raum geben! …weil Eltern und Kinder in Beziehung bleiben,
auch wenn Vater oder Mutter (psychisch) erkrankt ist, Köln 2004 (Anlage 3)
– in RisikoKindheit: Meine Eltern sind anders, Hrsg. Die Kinderschutz-Zentren, Köln 2005

3
Doris Arens/Ellen Görgen: Eltern-Kind-Behandlung in der Psychiatrie. Ein Konzept für die
stationäre Pflege, Psychiatrie-Verlag, Bonn 2006

4
Dr. Michael Hipp: Kooperationsvereinbarung, Hilden/Langenfeld 2006 (Anlage 4)

5
Susanne Heim: Weil die Menschen verschieden sind, Düsseldorf 2004 (Anlage 5)